Weihnachten 1914. Soldaten an der Westfront, gerade noch in erbitterte Kämpfe verwickelt, legen die Waffen nieder, verlassen die Schützengräben, reichen sich die Hände, singen Lieder, tauschen Geschenke aus. Die Verbrüderungen der Kriegsgegner sind Lichtblicke des Friedens, der Liebe und Menschlichkeit in einer Zeit des Hasses, der Gewalt und Massentötung.
In beiden Weltkriegen gab es kaum ein Ereignis, das die Soldaten so aufgewühlt hat wie das Fest des Friedens. Vielen ist der Widerspruch zwischen dem Erlebnis des „Menschenschlachthauses“ auf der einen und dem „Christ ist erschienen und verkündet uns: Friede auf Erden!“ auf der anderen Seite bewusst geworden. Die christliche Botschaft, die Erinnerung an die Weihnachtsfeste der Kindheit und der Heimat ließ viele Frontkämpfer in Schützengräben innehalten. Gleichwohl ist auch an den Festtagen in vielen Abschnitten geschossen und getötet worden.
Wie ein Spuk aus einer anderen Welt
In den Schützengräben des Ersten Weltkrieges war Weihnachten etwas Besonderes. Von Kameraden umgeben, wurde gesungen und getrunken. Es herrschte Geselligkeit; sie lenkte ab, betäubte die Sehnsucht nach Frau und Kind, nach den Freunden, Eltern und Geschwistern nur mühsam. Die „Kameradschaft“ ersetzte die traute Weihnachtsstimmung im Kreise der Familie daheim, tat es aber nur unvollkommen. Jeder Frontsoldat spürte das. Dem Gegner ging es nicht anders. Letzten Endes war jeder mit seinen Gedanken allein und empfand, in welch beispiellosem Kontrast das Fest der Versöhnung zu dem Massaker stand, in dem sich die Menschen täglich zerfleischten. Der Boden für die Weihnachtsverbrüderung zwischen den Feinden war bereitet und öffnete die Herzen. Humane, friedliche und religiöse Gefühle brachen sich Bahn.
So erging es auch dem Kriegsfreiwilligen Rupert Frey, als er am Heiligabend 1914, nur dreißig Meter vom Feind entfernt, an der Westfront auf Horchposten stand: „Als der Morgen graute, spielte sich vor unseren Augen eine Szene ab, die uns wie ein Spuk aus einer fernen Welt vorkam. Wir hatten schon von den Kameraden, die wir ablösten, gehört, dass der Feind zu fraternisieren suchte. Das erlebten wir nun selbst. Von drüben winkten sie mit Taschentüchern, und auch bei uns wurde dieser Gruß von einigen erwidert.
Ein besonders mutiger Engländer kam, die Arme schwenkend, näher, noch einer folgte, noch mehr, und allmählich kamen sie von allen Seiten. Auch wir stiegen aus unseren Gräben heraus, gingen ihnen entgegen, so dass wir uns in der Mitte zwischen den Stellungen trafen. Die Feinde schüttelten sich die Hände. Wir tauschten Geschenke aus, als wären wir Freunde. Unser Kompanieführer gab uns schließlich ein Zeichen, dass es nun Schluss sei mit der Anbiederung, und wir gingen wieder in unsere Gräben. Während der Weihnachtstage herrschte hier Waffenruhe.“
Ein Fest des Friedens: „Stille Nacht, heilige Nacht!“
Noch „festlicher“ ging es bei Messines in Flandern zu. Der Soldat Josef Wenzl erinnert sich: „Es klingt unglaublich, ist aber die pure Wahrheit. Am 26. Dezember 1914 rückten wir bei sternklarer Nacht und Mondschein in die Schützengräben vor. Der Feind musste uns sehen. Ich machte mich auf heftiges Feuer gefasst. Aber wer beschreibt mein Erstaunen, als kein Schuss fiel. Kaum begann der Tag, da erschienen Engländer und winkten uns zu. Unsere Leute erwiderten die Grüße. Allmählich kamen immer mehr Soldaten aus ihren Gräben heraus und gingen aufeinander zu. Unsere Leute stellten einen Weihnachtsbaum auf die Brüstung und läuteten mit Glocken. Alle bewegten sich frei zwischen den Gräben, keiner dachte ans Schießen. Bayern und Engländer, bisher die größten Feinde, drückten sich herzlich die Hand, unterhielten sich und tauschten Geschenke aus. Immer mehr Soldaten, deutsche und englische, gesellten sich hinzu. Auch von unserem Zug war die Hälfte draußen.
Auf mich kam ein Engländer zu, drückte mir die Hand und schenkte mir Zigaretten. Ein anderer gab mir ein Taschentuch, ein dritter schrieb mir seinen Namen und seine Adresse in mein Notizbuch. Die Leute unterhielten sich prachtvoll. Ein Engländer spielte auf der Mundharmonika, andere tanzten, wieder andere trugen zum Spaß einen deutschen Helm auf dem Kopf. Schließlich stellte einer von uns den Weihnachtsbaum in die Mitte zwischen den Gräben, und sofort hatte jeder ein Streichholz zur Hand, und im Nu strahlte der Baum im Lichterglanz. Die Engländer stimmten ein Weihnachtslied an, und wir sangen darauf ‚Stille Nacht, heilige Nacht‘. Es war eine ergreifende Weihnachtsfeier. Ich werde sie nie vergessen.“
Gesang und Glockenklang in Schützengräben
Von einem ähnlichen Erlebnis über den Heiligabend 1914 berichtet der Infanterist Rauch: „Unsere Männer läuteten in den Schützengräben mit Glocken und sangen Weihnachtslieder. Darauf kamen die Engländer drüben aus ihren Gräben und setzten sich mit brennenden Kerzen auf ihre Brustwehren. Am ersten Weihnachtstag trafen sich Freund und Feind zwischen den Stellungen. Man schenkte sich Zigaretten, Wäsche usw. Ein deutscher Offizier, der gut englisch sprach, unterhielt sich drüben mit den englischen Offizieren. Man hörte dort allgemein, die Deutschen seien doch ganz nette Kerle, das hätten sie nicht gewusst. Die Anbiederungen wurden schließlich von höheren deutschen Stellen untersagt.“
Gesang und Glocken wirkten an der Front oft friedensstiftend. Das erfuhr auch ein französischer Offizier, der mit seiner Einheit nördlich von Ypern dem deutschen Reserve-Infanterieregiment 212 gegenüberlag. Er sah voll Staunen, wie am Weihnachtsabend 1914 überall an der deutschen Front Christbäume aufleuchteten. Die Deutschen begannen Weihnachtslieder zu singen, die französischen Gegner hörten begeistert zu. Den Offizier packte ein Schauder. Er musste daran denken, wie im Oktober vor dem schrecklichen deutschen Angriff bei Bixschoote aus den gleichen deutschen Kehlen patriotische Lieder zu hören waren. „Man kann sich vorstellen“, schrieb der Franzose später in seinen Erinnerungen, „wie viele Flüche und Beschimpfungen zu einer anderen Zeit zu den Sängern hinübergeschickt worden wären. Aber das war nun vorbei … Ich blickte mich in unserer Stellung um. Alle standen aufrecht und waren hellwach, und schließlich stiegen sie auf die Brustwehr. Einige hatten den Graben verlassen und liefen ins Niemandsland, um den unerwarteten Gesang besser hören zu können. Keiner hatte Angst, keiner war zum Scherzen aufgelegt. Vielmehr sah ich in den Gesichtern der neben mir stehenden Soldaten ein Gefühl von Ergriffenheit. Nichts wäre leichter, als die Szene mit einer einzigen Salve zu beenden. Doch wir hätten es nicht fertiggebracht, auf diese betenden deutschen Soldaten zu schießen.“
„Festtage“ im Niemandsland
Manchmal ließen sich die Franzosen von der deutschen Weihnachtsstimmung anstecken. Die Geschichte des Reserve-Infanterieregiments 15 enthält folgenden Bericht eines deutschen Soldaten über das „Weihnachtsfest“ im Niemandsland bei Reims: „Am 23. abends wurden wir überraschend nach vorne gezogen. Die Führung rechnete mit einem Angriff. Alles aber blieb ruhig, wie gewöhnlich, wenn ein Unternehmen des Feindes erwartet wird. Am Weihnachtsabend wurde unsere Artillerie mit einigen tückischen Feuerüberfällen beschenkt … Bei dem Brigade-Regiment aber hatte ein Ingenieur seit Wochen Glühbirnen aus verbrauchten Taschenlampen gesammelt, dazu ein Dutzend elektrische Batterien. Die Birnchen hatte er miteinander verbunden und einen Tannenbaum damit geschmückt. Eine Patrouille musste dann am 23. nachts an einen Pfahl des französischen Drahthindernisses einen Zettel befestigen: ‚Wir feiern morgen Weihnachten! Wittert nichts Böses!’
Dieselbe Patrouille trug am 24. gegen neun Uhr abends das Bäumchen behutsam an das feindliche Drahthindernis. Ein Draht führte zur Kraftstation in unserem Graben. Nach Rückkehr der Patrouille ließ der Ingenieur die Birnchen vor den Augen der Franzosen aufflammen. Zugleich kamen aus unseren Unterständen Bäumchen hervor und wurden auf der Brustwehr angezündet.“
„Es ist ein Ros‘ entsprungen“ oder „Ist überhaupt noch Krieg?“
„Eine wunderbare Winternacht“, heißt es in dem Bericht weiter, „ist herabgesunken. Myriaden von Sternen funkeln herab. Frost nach starkem Regen hat viele Wasserlachen mit Eis überzogen. Der Mond geht auf. In seinem Umkreis löscht er zwar die Sterne aus, dafür aber flutet sein Licht hell auf den von Kristallen wie bereiften und geäderten Boden nieder. Nunmehr erklingt aus den endlosen Grabenlinien das ‚Stille Nacht, heilige Nacht!’ Kein Schuss fällt. Es folgen ‚O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit!’ und ‚Es ist ein Ros’ entsprungen’. Schon ist wieder Stille eingetreten, da ruft aus dem Graben von drüben eine Stimme: ‚Die Lieder haben den Franzosen so gut gefallen, dass sie um Wiederholung bitten!’ Ein Elsässer wird den Wunsch verdolmetscht haben. Er wird erfüllt … Mitternacht ist vorüber. Kein Laut stört den tiefen Schlummer der verwundeten Erde. Ist überhaupt noch Krieg?“
„Am Vormittag des 25. stellt wieder einer sein Bäumchen auf die Brustwehr. Da beginnen Arme mit Käppis zu winken. Einer wagt sich bei uns halb aus dem Graben heraus. Schon folgen drei Rothosen. Nun steckt einer nach dem anderen die Nase hervor. Schließlich gehen zwei Unteroffiziere, beide die Hände in den Hosentaschen, aufeinander zu, treffen sich mitten im Niemandsland, reichen sich die Hände und knüpfen ein Gespräch an.
Der Franzmann spricht deutsch. Es dauert nicht lange, da wächst die Gruppe auf zwanzig Mann an. Alle haben die Waffen hübsch zurückgelassen. Das Misstrauen schwindet schnell, und jetzt kommen auch die letzten aus den Gräben gekrochen. Sich beschnüffeln, Hände schütteln, radebrechen. Bekommt man sich doch sonst nur als huschenden Schatten im Geisterschein des Mondes zu ahnen!
Die Kompanieführer sind ratlos … Das ist ja wider alle Kleiderordnung … Aber man macht gute Miene zum bösen Spiel … Nous sommes tous des pères de famille. Nous désirons la paix!’ [„Wir sind alle Familienväter. Wir wünschen Frieden!“] … Mir versichern Leute, sie hätten niemals einem Freunde so herzlich die Hand geschüttelt wie soeben dem Feinde.“32
Verbrüderung am Morgen danach
Wie dicht beieinander liegen dieses Händeschütteln der Gegner und die mörderische Kampfeswut, mit der sie sich im nächsten Augenblick wieder töten! Das hat Regiments-Adjutant und Bataillons-Führer im Infanterie-Regiment 78, Fritz Ebeling, ebenfalls in der Kriegsweihnacht 1914 erlebt: „Der Morgen des ersten Festtags ist ein schöner, klarer Wintertag. Beim linken Nachbarregiment klettert ein Mann des Reserve-Infanterie-Regiments 15 mit einem geschmückten Tannenbäumchen aus dem Graben heraus und winkt den Franzosen, die neugierig, dicht gedrängt über die Brustwehr ihrer Stellung lugen. Endlich kommt ein beherzter Poilu [= „Behaarter“, Spitzname der französischen Soldaten] heran, nimmt den Tannenbaum in Empfang und gibt als Dank einen Schluck aus der Feldflasche. Ein Händeschütteln, dann trennen sie sich. Nun aber kommen, sicher geworden, Dutzende von Franzosen ebenfalls aus den Gräben heraus und gehen ohne Waffen in Richtung auf die deutschen Gräben, aus denen jetzt auch eine ganze Zahl Deutscher die Stellung verlässt. Man begrüßt sich als ritterliche Gegner durch Handschlag, tauscht kleine Geschenke wie Schokolade, Zigaretten und Uniformknöpfe aus.“
In den nächsten Stunden weitet sich das Verbrüderungstreffen zu einer Massenbewegung aus. Bald gehen auf der gesamten Frontlänge die Regimenter aufeinander zu. Der Kommandeur der „78er“, Ralf von Rangow, notiert in seinem Tagebuch: „Freitag, den 25.12.1914. Ich wurde mit der Nachricht geweckt, dass die Franzosen in Massen vor ihren Gräben stünden, die Mützen schwenkten, ‚Frohe Weihnachten’ herüberriefen usw. Ich ging zu Hauptmann Kunze, dem Chef der mir unterstellten Kanonenbatterie bei Courcy. Er wollte schießen lassen, aber ich untersagte es vorläufig, es widerstrebte mir, den Weihnachtsfrieden zu stören.
Als ich dann vorn auf Punkt 101 kam, bot sich mir allerdings ein unerwartetes Bild: Zu Hunderten hatten sich auf der ganzen Front unsere Leute und die Franzosen etwa auf der Mitte zwischen den Stellungen zusammengefunden, schüttelten sich die Hände, tauschten Schokolade, Zigaretten usw. aus und schwatzten miteinander. Von uns konnten einige Französisch, von drüben einige deutsch sprechen. Auch ein kleines geschmücktes Christbäumchen hatten unsere Leute den Franzosen mitgebracht.“
Wider den Hass und den „Hurra-Patriotismus“
„Dass zwischen uns“, so von Rangow weiter, „und den Franzosen kein allgemeiner Hass bestand, wusste ich schon immer, aber nie ist mir das klarer geworden als bei diesem Anblick. Und der Wahnsinn dieses Krieges trat hier sinnfällig in Erscheinung … In der folgenden Nacht knallten bereits wieder französische Gewehre gegen heranschleichende deutsche Patrouillen.
Jedem, der das mit angesehen hat, wird dieses Bild vom ersten Weihnachtsfeiertag unvergesslich bleiben … Durch nichts kann die Seele des Feldsoldaten trefflicher gezeichnet werden als durch dieses Erlebnis. Sie hassten die Feinde nicht. Das Menschenmorden der Schlachten war ihnen bittere, sehr bittere Pflicht; sie wussten, dass alle die einzelnen Poilus, die Kleinbauern und die Gevatter Schneider und Handschuhmacher, sich auch aus den nassen, kalten, schmutzigen Gräben in die Heimat zu Weib und Kind sehnten. Sie wussten, dass jene Männer drüben in den Gräben auch alle ein Heim hatten, in dem weiche, leere Betten die behaglichen Zimmer anstarrten; sie hatten die gleiche Not im Leben und Sterben, es waren auch Soldaten, die man achten musste. Wie hassten unsere Männer im grauen Rock den gefühlsseligen, großmäuligen Hurra-Patriotismus, wie er sich in den Zeitungen der Heimat aufblähte!“
„Kamerad, nicht schießen! We are your friends!“
Die weihnachtliche Stille überwältigte die Kämpfer. Sie unterbrach plötzlich den Höllenlärm der Schlacht. Der Kontrast zwischen wochenlangem Trommelfeuer und der Botschaft des Friedens in der Heiligen Nacht konnte nicht größer sein: Das Weihnachtsfest stellte sich den Frontkämpfern als aufwühlenden Erlebnis dar. In Friedenszeiten hatten das die Soldaten nicht gekannt. Die himmlische Botschaft machte sie demütig – und offen für eine Verbrüderung mit dem Feind. Dieses Wunder vom 24. Dezember 1914 beschreibt der Goslarer Jäger Lüdemann: „Ich musste bald mit einigen Kameraden auf Horchposten, und da geschah etwas, woran wohl keiner gedacht hatte. Das Schießen verstummte plötzlich. Die Tommys kamen, aber nicht in feindlicher, sondern in freundschaftlicher Absicht. Denn von weitem – wir lagen uns ungefähr 400 Meter gegenüber – hörte man die Rufe laut in die helle Nacht: ‚Kamerad, nicht schießen! We are your friends!’
Unsere brennenden Bäumchen mit den vielen Kerzen hatten die Gemüter so bewegt, dass sie kurzerhand aus den Gräben liefen. Unser Hauptmann dachte: Was nun tun? – und lief wie wild im Graben umher. Er glaubte, nun träfe die vorausgesagte Überrumpelung ein und fasste die vielen Rufe als Tricks auf. Auch uns war anfangs sehr eigentümlich zumute. Wir waren auf alles gefasst.
Der Hauptmann gab sofort den Befehl zum Schießen. Leuchtkugeln stiegen hoch, und schon sausten verschiedene Kugeln aus unserer Kompagnie dem Tommy entgegen. Doch das Schießen wurde sofort wieder eingestellt, denn das verdächtige Rufen hörte noch immer nicht auf. Im Gegenteil, es wurde noch kräftiger. Unsere Kugeln hatten auch scheinbar nichts angerichtet.“
Waffen nieder, Geschenke gemacht und „Hurra-Rufe“ der Engländer
„So sprang denn kurzerhand unser Oberjäger Echte vom ersten Zuge auf die Deckung und lief zum Drahtverhau, um sich zu überzeugen, was denn eigentlich los sei. Derselbe musste nun die überraschende Feststellung machen, dass vor dem Drahtverhau eine ganze Reihe Engländer angekommen waren, alle ohne Schusswaffen. Nun fassten auch noch mehrere unserer Kameraden Mut und liefen hinzu. Inzwischen waren noch mehrere Engländer angekommen. Man reichte sich freundschaftlich die Hände und fing ein eifriges Gespräch an, zumal der Oberjäger Echte fließend englisch sprechen konnte. Bei der Gelegenheit wurden sogar Geschenke ausgetauscht. Die Engländer gaben Wurfmesser, Tabak, der Oberjäger bekam sogar eine kurze Pfeife, während von uns Deutschen Zigaretten geschenkt wurden.
Gegen 4 Uhr morgens fing plötzlich bei den Sachsen eine Musikkapelle an zu spielen. Die schönsten Weihnachtsweisen erschollen laut in die stille, klare Nacht. Bei diesen heimatlichen Klängen musste doch einem jeden Kameraden das Herz weich werden. Nach jedem Liede vernahmen wir laute Hurra-Rufe, die von den Engländern kamen.
Auch dort trat bald Ruhe ein, der Tag begann, und friedlich war alles ringsumher. Tatsächlich konnten wir getrost außerhalb unseres Grabens spazieren gehen und uns die Gegend erst einmal richtig ansehen, während man sonst wegen der englischen Scharfschützen nicht einen Augenblick den Kopf über die Deckung halten durfte … Vor allem wurden auch die im Felde liegengebliebenen Toten, größtenteils Kameraden des 7. Jägerbataillons, Husaren und auch Franzosen beerdigt.
Am Morgen des ersten Weihnachtstages kam zunächst Jäger Pahl auf den Gedanken, zu den Engländern hinauszugehen. Er teilte mir sein Vorhaben mit. Nach unserer Rückkehr hatte bald der Kompagnieführer, Hauptmann Richter, von unserem Ausflug erfahren und drohte uns strenge Bestrafung an. Der Bataillons-Kommandeur sah aber später zu unserer Freude von einer Bestrafung ab.“
„Merry Christmas“
Das Fest der Liebe machte aus Feinden Freunde. Ein erschütternder Bericht findet sich in der Chronik des Westfälischen Infanterieregiments 15 („Prinz Wilhelm der Niederlande“). Leutnant Menke notiert: „Am Nachmittag des 24. Dezember 1914 zeigte sich die englische Artillerie zunächst durchaus nicht festlich-friedlich gestimmt. Sie zerstörte in Le Maisnil [= Gemeinde im französischen Département Nord in der Region Hauts-de-France] zwei Quartierhäuser und musste dafür von unseren Batterien gehörig abgestraft werden. Dann aber, als die Sonne hinter den englischen Linien versank, trat Ruhe ein. Sogar Wind und Wetter setzten aus. Eine wahre stille heilige Nacht! Soweit das Ohr reichte kein Schuss, kein Laut – überall ‚Gewehr in Ruh’. Auch im Schützengraben fehlte der Weihnachtsbaum nicht, wohl jeder Zug sah einen in seiner Mitte.
Als am tiefdunklen Himmel die Sterne aufleuchteten, stellte jemand das Lichterbäumchen auf die Brustwehr. Das Beispiel fand Nachahmung, und es dauerte nicht lange, bis in langer Reihe viele Weihnachtsbäume die deutsche Linie zierten. Wo sonst Tod und Verderben lauerten, gebot dieses schlichte Zeichen des deutschen Weihnachtsfestes ‚Friede auf Erden’. Englische Soldaten erklärten am nächsten Tage, der Anblick der Weihnachtsbäume und der Gesang der deutschen Weihnachtslieder seien überwältigend gewesen.
Auch im Glanz der Weihnachtskerzen kroch im Niemandsland eine deutsche Patrouille vom 3. Bataillon herum. Anstatt die übliche Begrüßung mit der Kugel zu erhalten, wurde sie plötzlich vom englischen Graben aus angerufen. Man schlug ihr vor, morgen Waffenruhe zu halten, um die Toten zu beerdigen. Hauptmann Lindow erstattete Meldung, und die Vorgesetzten willigten ein. Noch war die Genehmigung nicht im Graben, als am frühen Morgen des ersten Feiertages auf der englischen Brustwehr Mann an Mann erschien. Mächtig große Kerle in der originellen Tracht der Schotten mit dem Faltenröckchen standen ohne Waffen da, winkten uns zu und riefen ‚Merry Christmas’. Wir waren alle überrascht. Mit den englischen Offizieren wurde alsdann vereinbart, dass jede Seite nur vor ihrem Graben zu beerdigen habe. Doch es dauerte nicht lange, bis die Tommys mit ihren Feinden anzubändeln begannen, obwohl sich unsere Leute zunächst zurückhaltend und ablehnend verhielten. Es kam schließlich doch zu Unterhaltungen und zum Austausch von Zigaretten. Das gleiche geschah in den benachbarten Regimentsabschnitten.“
Von Graben zu Graben
Die häufigen Verbrüderungen während der ersten Frontweihnacht hatten einen naheliegenden psychologischen Grund: Die Soldaten waren auf beiden Seiten tief enttäuscht: Der Krieg war trotz aller Versprechen nicht schon Ende 1914 vorbei, der Bewegungskrieg in einem Stellungskrieg erstarrt, die Männer nicht zu Hause bei ihren Lieben; sie mussten in den verschlammten, eiskalten Gräben Flanderns das Weihnachtsfest feiern und wurden oft auch noch zu verlustreichen Angriffen angetrieben. Auch der Gegner war frustriert. Millionen Menschen fern ihrer Heimat, zu einem sinnlosen Gemetzel gezwungen und in ständiger Todesangst – das trennt nicht nur, das verbindet zuweilen auch auf geheimnisvolle Weise. Den Soldaten drängte sich die Erkenntnis auf, dass sie ein gemeinsames Schicksal verband.
„Seit November 1914 werden Verbrüderungen von der ganzen Front gemeldet“, schreibt der französische Kriegshistoriker Pierre Miquel in seinem Buch „Les Poilus“. Die Soldaten tauschten Briefe mit dem „Feind“ aus. In der Weihnachtsnacht haben die Gegner im Frontabschnitt an der Aisne von Graben zu Graben miteinander geplaudert. Die Deutschen sangen Weihnachtslieder. Man tauschte Zigaretten, „und bald haben wir mit den Deutschen gezecht“, zitiert Miquel einen französischen Soldaten. „Fünfhundert Männer, Franzosen und Deutsche, schlugen sich zwischen den Schützengräben die Bäuche voll.“
Liberté, Egalité, Fraternité und der „Dolchstoß“
Doch darf die Idylle nicht darüber hinwegtäuschen, dass an vielen Abschnitten der Front auch über Weihnachten heftig gekämpft wurde. Vor allem an Abschnitten der Westfront kam es zu versteckten Verbrüderungen. Henry Pouverau, ein Überlebender des Regiments von Péguy, war im Schützengraben an der Aisne-Front Zeuge, von solch diskreten Fraternisierungen: „Sie führten Unterhaltungen mit uns. Man gewöhnt sich an die Anwesenheit des Gegners dort, wo er sehr nahe ist. Es gibt keinen Hass gegen die Deutschen, der Hass stumpft an der Front ab.“
Der dritte Kriegswinter brachte die Frontsoldaten, nicht nur die französischen, fast zur Verzweiflung. Die Selbstmorde nahmen zu. Sie hatten die Hoffnung verloren, dass der Krieg noch mit Waffen entschieden würde. Es gab Erfrierungen, Krankheiten, Verletzungen. Das Klima für Gespräche und die Verständigung mit dem Feind war günstig. „Die Deutschen und die unseren verstehen sich bestens“, führt Miquel einen französischen Soldaten von der Vogesen-Front an. „In einigen Gegenden speisen sie sogar zusammen. Auch die Deutschen – nach Meinung ihrer Heeresleitung ‚schlaffe und weiche Leute‘ – genossen die Pause im Gemetzel.“
Vor diesem Hintergrund die „Dolchstoß-Legende“ wieder aufzuwärmen, wie es jüngst der Historiker Gerd Krumeich getan hat, verdeutlicht, wie sehr er an den Empfindungen der deutschen wie französischen Soldaten vorbeidenkt und sich an jenen orientiert, für die Weihnachten, die Sehnsucht nach Frieden und die Abkehr von Gewalt nicht existierte und die den Krieg weiterhin zur ultima ratio erklärten. Dem Vermächtnis des christlichen Friedensgebotes und der Verbrüderungs- und Verständnisbemühungen von Deutschen, Engländern, Russen und Franzosen über die Gräben hinweg steht eine solche Wahrnehmung und Interpretation nicht nur im Wege, ein wirkliches Lernen aus der Geschichte wird dadurch geradezu verhindert.
Die Beispiele entnommen aus dem Buch von Heinrich Rieker: „Nicht schießen, wir schießen auch nicht!“ Versöhnung von Kriegsgegnern im Niemandsland 1914-1918 und 1939-1945. 176 S., 62 Abb., 14 €, ISBN 978-3-938275-18-4 Donat Verlag